Zielgruppe

Patienten mit erworbener komplexer Hirnschädigung.
Diese leiden meist unter komplexen Störungsbildern; bei ihnen bestehen neben elementaren Funktionsstörungen wie Lähmungen mit Mobilitätsproblemen und Wahrnehmungsstörungen auch Störungen der höheren Hirnleistungen wie Kommunikationsbeeinträchtigungen, emotionale Instabilität und soziale Anpassungs- und Eingliederungsstörungen.

Häufigste Ursachen:
  Schädel-Hirn-Trauma
  Cerebrale Hypoxie (Sauerstoffmangel des Gehirns)
  Hirnentzündung
  Hirntumor und postoperative Hirnschädigung
  Subarachnoidalblutung (mit konsekutiven Infarkten)

Gerade diese Personengruppe, die selbst nicht oder nur sehr eingeschränkt zum Selbstmanagement fähig ist, bedarf kontinuierlicher und geplanter Rehabilitationsmaßnahmen. Denn nach dem Überleben der Akutphase eines Hirntraumas entscheidet oft mehr die Intensität und Qualität der Neuro-Rehabilitation über die Re-Integration des Betroffenen als Art und Schweregrad seines ursprünglichen Traumas. Dies belegen zahlreiche Beispiele. Ein bekannter Fall ist etwa Karl Wendlinger, der ehemalige österreichische Formel-1 Pilot (Vgl. Österreichisches Bundesinstitut für Gesundheitswesen (ÖBIG): Bericht zu: Neuropsychologische und Psychosoziale Versorgung von Menschen nach einem Schädel-Hirn-Trauma, 2006, S. 1.).

Der Bedarf an Unterstützung bzw. Case-Management ergibt sich weniger aus der Diagnose an sich, als vielmehr aus den Auswirkungen einer Hirnschädigung, die sehr unterschiedlich, v.a. auch sehr komplex sein können. Leider zeigen Erfahrungen, dass bestehende Strukturen oft den komplexen Anforderungen nicht entsprechen.

Patientencharakteristik (Beeinträchtigungen nach erworbener Hirnschädigung können auftreten in Bezug auf):
  geistig-intellektuelle Leistungsfähigkeit
  motorische und sensorische Fähigkeiten
  sprachliche Leistungen
  Sehleistungen
  Persönlichkeit und Verhalten
  Affekt und emotionale Stabilität

Einschränkungen der geistigen Leistungsfähigkeit und Aufmerksamkeitsstörungen:
Der Patient kann sich z.B. nicht konzentrieren; er kann die Aufmerksamkeit nicht auf zwei Dinge gleichzeitig richten; die Geschwindigkeit seiner Aufnahme und Verarbeitung von Informationen und Reizen kann verlangsamt sein. Auswirkungen im Alltag sind vor allem am Arbeitsplatz, im Straßenverkehr und bei Aktivitäten im Haushalt sowie bei der Gestaltung von Beziehungen gegeben. Es kann dabei einerseits zu Selbst- und Fremdgefährdung kommen, andererseits passieren häufig Fehlinterpretationen, die zu Kränkung und Verärgerung führen.

Gedächtnisstörungen:
Das Speichern neuer Informationen im Langzeitgedächtnis ist nach einer erworbenen Hirnschädigung häufig beeinträchtigt Darüber hinaus kann es auch zu Störungen des „Altgedächtnisses“ kommen. Dies äußert sich z.B. darin, dass sich ein Patient am nächsten Tag an nichts oder nur an Teilbereiche erinnern kann, Informationen nicht aus dem Gedächtnis abrufen oder zuordnen kann, neue Informationen über längere Zeiträume nicht speichern kann. Erlangtes Allgemein- und Fachwissen und eigene Erlebnisse können nicht mehr abgerufen werden. Auswirkungen im Alltag sind, dass Vereinbarungen und Verabredungen nicht eingehalten werden, Inhalte aus unterschiedlichen Gesprächen mit verschiedenen Personen vermischt werden, die Person häufig in der Vergangenheit und nur eingeschränkt in der Gegenwart lebt oder Dinge erzählt, die nicht der Wahrheit entsprechen.

Störungen im Erfassen komplexer Sachverhalte:
Schwierigkeiten können vor allem dann auftreten, wenn Handlungen geplant oder Probleme gelöst werden sollen. Das wirkt sich so aus, dass der Betroffene komplizierte Sachverhalte nicht versteht, unangemessen reagiert, keine Entscheidungen treffen kann und im Gegensatz zu früher keine Ideen besitzt, wie das Problem angegangen werden kann.
Im Alltag zeigt es sich z.B. bei der Suche nach einer Bus- oder Bahnverbindung oder bei der Zubereitung von Mahlzeiten, dass hier bereits zu komplexe Anforderungen vorliegen. Bei Gesprächen schweifen Betroffene ab und verlieren sich in unrelevanten Details, reden am Thema vorbei oder sind unpräzise in ihren Antworten.
Als Folge können Aggressionen auftreten, wenn Betroffene keine Einsicht in die bestehende Beeinträchtigung und in die daraus resultierende Problematik haben und das Problem also den Anderen, den Umständen etc zuschieben. Diese Auswirkungen belasten häufig das soziale Zusammenleben und -arbeiten ganz besonders. Der Betroffene fühlt sich bevormundet, nicht ernst genommen oder glaubt für „blöd“ gehalten zu werden. Der Partner wiederum macht sich Sorgen z.B. in Bezug auf finanzielle Konsequenzen, die sich etwa aus Vertragsabschlüssen ergeben.

Verminderte Belastbarkeit:
Sie wirkt sich in einer zum Teil wesentlich rascheren Ermüdbarkeit als vor der Erkrankung aus. Selbst Tätigkeiten, die normalerweise der Entspannung dienen, wie Fernsehen oder ein Nachmittag mit Freunden können als anstrengend empfunden werden. Damit treten häufig Einschränkungen in Bezug auf Freizeitaktivitäten und soziale Kontakte auf. Weiters hat eine verminderte Belastbarkeit gravierende Auswirkungen in der Ausübung einer beruflichen Tätigkeit z.B. bei einem Fernfahrer oder bei der Arbeit an Maschinen. In der Beratung stellen wir immer wieder fest, dass die berufliche Tätigkeit gerade noch geleistet werden kann, aber danach eine völlige Erschöpfung eintritt. Das kann über Jahre gut gehen. Kommt es aber zu einer zusätzlichen Belastung, z.B. in einer Lebensabschnitts- oder Beziehungskrise, bricht plötzlich das gesamte System zusammen, das mit viel Mühe aufrechterhalten worden ist.

Motorische Einschränkungen
Eine motorische Beeinträchtigung z.B. durch Halbseitenlähmung oder durch Gleichgewichtsstörungen hat entsprechende Auswirkungen in den Handlungsmöglichkeiten und damit in der Selbständigkeit. Wichtig ist es, eine möglichst große Selbständigkeit und Unabhängigkeit von Hilfestellungen durch Angehörige oder Hilfsorganisationen zu bewahren oder zu erreichen. Dabei ist der Einsatz von geeigneten Hilfsmitteln entscheidend, die allerdings auch akzeptiert werden müssen. Auch die Haltung von Angehörigen ist, durch eventuelle Überforderung oder Unterforderung (z.B. durch Über-Obsorge) ein entscheidender Faktor, der unbedingt mit zu berücksichtigen ist.

Beeinträchtigung der Sprache
Diese kann ebenfalls zum Verlust von Selbständigkeit führen. In Verbindung mit einer Sprachstörung steht häufig auch eine Beeinträchtigung des Lesens und Schreibens. Die Auswirkungen sich nicht entsprechend ausdrücken zu können führt in sehr vielen Fällen zu einer depressiven Stimmung, die den gesamten Behandlungsverlauf prägen kann. Verstärkt wird die Situation noch, wenn man sich gegenseitig vormacht den anderen verstanden zu haben. Der Hintergrund dafür kann Zeitmangel in der Betreuung und Versorgung, Ungeduld, aber auch falsche Scham sein.
Dieses Verhalten führt dazu, dass der Patient den Eindruck gewinnt nicht ernst genommen zu werden. Hier liegt häufig eine der Ursachen für soziale Probleme, die entweder zu Depressionen und damit zum Rückzug oder aber zu Aggressionen führen.

Sehstörungen
z.B. Gesichtsfeldausfälle:
Hierbei wird ein Teil der rechten oder der linken Raumhälfte nicht mehr gesehen. Die Auswirkungen im Alltag sind, dass Dinge nicht mehr gesehen werden, was zum Zusammenstoß mit Personen oder Dingen führt. Räumliche Orientierungsschwierigkeiten sind in der Regel eine weitere Folge. Lesestörungen können ebenfalls auftreten.
Gesichtsfeldausfälle bleiben in der Regel bestehen. Es gilt Strategien zu entwickeln, die es der Person ermöglichen mit dem Ausfall so zurechtzukommen, dass im Alltag kaum noch Einschränkungen auftreten.

z.B. Störungen der Kontrastwahrnehmung:
Betroffene geben an verschwommen oder unscharf zu sehen. Dabei kann es vorkommen, dass die Schwierigkeit erst während des Lesens auftritt und bei einer augenärztlichen Untersuchung keine Sehschwäche erkennbar ist. Die Sehschärfe lässt sich aber weder durch eine Brille noch durch therapeutische Maßnahmen verbessern.

Änderung der Persönlichkeit oder des Verhaltens
Häufig wird von nahestehenden Personen berichtet, dass sich ein Patient seit der Hirnschädigung in seiner Persönlichkeit verändert hat. Ein Hirntrauma führt für die meisten Menschen zu mehr oder weniger stark ausgeprägten psychischen Beeinträchtigungen, die sich auf das Verhalten anderen gegenüber auswirken. Dieses Verhalten kann eine psychische Reaktion auf die neue Situation darstellen, aber auch unmittelbar durch spezifische Schädigungen des Gehirns hervorgerufen werden (primär hirnorganische Störung, z.B. sogenanntes "Frontalhirnsyndrom", ..). Die Schwierigkeit dabei ist es den richtigen Handlungsansatz zu finden. Unabhängig von der Ursache können die Auswirkungen den weiteren Fortbestand zwischenmenschlicher Beziehungen gefährden.

Mögliche Änderungen der Persönlichkeit sind:

Aggressives Verhalten:
Die Betroffenen kommen häufig in Situationen, die negative Gefühle auslösen. Wenn es nicht gelingt diese Gefühle passend zu steuern - was aufgrund der Beeinträchtigung oft nicht möglich ist -, finden Wut, Hilflosigkeit, Ärger, Frustration ihren Ausdruck in aggressivem Verhalten. Ein kleiner Reiz kann zu Reaktionen führen, die völlig unangemessen erscheinen und das Zusammenleben empfindlich stören. Betroffene leiden selbst darunter, sind aber oft nicht in der Lage ihre Emotionen zu kontrollieren. Dabei besteht auch unter Professionisten keine einheitliche Sichtweise im Zugang zu Lösungen, die von psychotherapeutischen bis zu verhaltenstherapeutischen Interventionen reichen.

Verminderter Antrieb:
Ehemals tatkräftige, gesellige, unternehmungslustige Menschen verbringen ihr Leben plötzlich passiv und inaktiv. Es fehlt an Eigeninitiative und Interesse an ihrem Leben und den Geschehnissen in ihrer Umwelt. Diese Symptome können sowohl Ausdruck einer depressiven Reaktion, aber auch eine direkte Folge der Hirnschädigung sein.

Kontrollverlust über Emotionen (Weinen und Lachen):
Lachen und Weinen können als Folge einer Hirnschädigung auch ohne eine entsprechende Situation und vor allem ohne dazu passende Emotionen ausgelöst werden. Der Betroffen weint ohne Anlass oder lacht in einem völlig unpassenden Augenblick, was vor allem in Gegenwart Dritter sehr unangenehm sein kann.

Veränderung des Sozialverhaltens (Nähe- /Distanzverhalten):
Besonders nach einer Schädigung des Stirnhirns kann es zu Störungen kommen, die als besonders belastend erlebt werden. Es treten Verhaltensweisen auf, die an der Person völlig fremd erscheinen und peinliche Situationen zur Folge haben. Dazu kommt, dass sich der Betroffene bei einer derartigen Hirnschädigung oft seines inadäquaten Verhaltens nicht bewusst ist. Er sieht sich in Bezug auf seine geistige Leistungsfähigkeit wie auch seine Belastbarkeit unverändert und läßt sich nicht vom Gegenteil überzeugen.

Sozial unangemessenes Verhalten:
z.B. der Verlust sozialer Umgangsformen wie unangemessenes Gesprächsverhalten durch „Dazwischenreden“ oder Mangel an Taktgefühl, bis hin zu sexuellen Annäherungsversuchen oder gar Übergriffen.

Kindisches Verhalten

Unfähigkeit Gefühlsausdrücke anderer Menschen richtig zu deuten:
Die Person erkennt z.B. nicht, wenn andere ärgerlich oder traurig sind und verhalten sich scheinbar unsensibel oder gar provozierend. Die Ursache liegt eventuell aber darin, dass Mimik und Gestik nicht richtig gedeutet werden können.

Verstärkung vorhandener Persönlichkeitsmerkmale:
Bei einer erworbenen Hirnschädigung kann es nicht nur zu einer Änderung von Persönlichkeitsmerkmalen kommen, sondern auch zu einer stärkeren Ausprägung von bereits bestehenden.
Eine Person, die bereits vor dem Ereignis leicht reizbar war, ist dies z.B. jetzt verstärkt. Oder eine ordnungsliebende Person wird jetzt als pingelig oder zwanghaft erlebt.

(Vgl. C. Michael: Schädel-Hirn-Verletzungen, Wege zum Neuanfang, Trias Verlag, Stuttgart 2003)

Daraus ist erkennbar, weshalb diese Patienten häufig aus bestehenden Angeboten herausfallen. Sie sind weder „nur“ körperlich oder geistig behindert, noch psychisch krank. Sie sind in der Rehabilitation und Versorgung „komplexer“ zu sehen als andere Patienten mit ausschließlichen Mobilitäts- und Wahrnehmungsstörungen.

Diese Beschreibung macht offensichtlich, dass viele verletzungsbedingte Schädigungen und Beeinträchtigungen häufig erst im „Alltag“ zum Tragen kommen. So ist der Erfolg einer stationären Rehabilitation erst dann gesichert, wenn eine Re- oder Neu-Integration in den Beruf und in das soziale Umfeld gelingt.



Letzte Änderung: 10.05.2007